Liebe Leserinnen und Leser,
da Bonhoeffer 1945 hingerichtet wurde, sind seine Texte seit 2016 (70 Jahre nach seinem Tod bzw. ab 1. Jan. des Folgejahres) gemeinfrei. – Ihr Alter von über 70 Jahren macht sie keinesfalls bedeutungslos für uns heute. Sein Nachdenken regt manche an, so auch mich. In den Ferien werde ich hier also einzelne Abschnitte jeweils zitieren und einige Gedanken zum Text dazu geben.
Für die Sommerferien habe ich den Teil II seines Bands »Nachfolge« von 1937 gewählt: Dort geht es um die Kirche Jesu Christi (im ersten Teil ging es um den Ruf an den Einzelnen).
Hier der erste Teil des Textes (die griechischen Begriffe sind transkribiert, die Fußnoten in den Text geholt, die teils eigenwillige Orthographie wurde beibehalten:
II. Die Kirche Jesu Christi und die Nachfolge.
Vorfragen.
Jesus war seinen ersten Jüngern leiblich mit seinem Wort gegenwärtig. Dieser Jesus aber ist gestorben und auferstanden. Wie erreicht uns heute sein Ruf in die Nachfolge? Jesus geht nicht mehr leiblich an mir vorüber, wie am Zöllner Levi, um mir zuzurufen: folge mir nach! Selbst wenn ich von Herzen willig wäre, zu hören, alles zu verlassen und zu folgen, was gibt mir das Recht dazu? Was für jene so unzweideutig war, ist für mich eine höchst fragwürdige, unkontrollierbare Entscheidung. Wie käme ich dazu, etwa den Ruf Jesu an den Zöllner mir gelten zu lassen? Hat nicht Jesus zu Anderen und zu anderer Gelegenheit auch ganz anders gesprochen? Hat er denn den Gichtbrüchigen, dem er seine Sünde vergab und den er heilte, hat er den Lazarus, den er vom Tode erweckte, weniger geliebt als seine Jünger, und dennoch rief er sie nicht aus ihrem Beruf in seine Nachfolge, sondern ließ sie in Haus, Familie und Beruf? Wer bin ich, daß ich mich selbst anbieten wollte, hier etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches zu vollbringen? Wer sagt mir und wer sagt den Anderen, daß ich nicht aus eigner Macht und Schwärmerei handle? Das aber wäre gerade nicht Nachfolge!
All diese Fragen sind unechte Fragen, immer wieder stellen wir uns mit ihnen außerhalb der lebendigen Gegenwart des Christus. All diese Fragen wollen nicht mit der Tatsache rechnen, daß Jesus Christus nicht tot, sondern heute lebendig ist und durch das Zeugnis der Schrift noch zu uns spricht. Er ist uns heute gegenwärtig, leiblich und mit seinem Wort. Wollen wir seinen Ruf in die Nachfolge hören, so müssen wir ihn dort hören, wo er selbst ist. Der Ruf Jesu Christi ergeht in der Kirche durch sein Wort und Sakrament. Predigt und Sakrament der Kirche ist der Ort der Gegenwart Jesu Christi. Willst du den Ruf Jesu in die Nachfolge hören, so brauchst du dazu keine persönliche Offenbarung. Höre die Predigt und empfange das Sakrament! Höre das Evangelium des gekreuzigten und auferstandenen Herrn! Hier ist Er ganz, derselbe, der den Jüngern begegnete. Ja, hier ist er schon als der Verklärte, der Sieger, der Lebendige. Kein anderer als Er selbst kann in die Nachfolge rufen. Weil es aber in der Nachfolge niemals wesentlich um die Entscheidung für dieses oder jenes Tun, sondern immer um die Entscheidung für oder gegen Jesus Christus geht, darum eben ist die Situation für den Jünger oder Zöllner, der von ihm gerufen wurde, um nichts eindeutiger als für uns Heutige. Nachfolge war ja auch der Gehorsam jener ersten Gerufenen allein dadurch, daß Christus im Rufenden erkannt wurde. Es ist aber dort wie hier der verborgene Christus, der ruft. Der Ruf an sich ist vieldeutig. Auf den Rufer kommt es allein an. Christus aber wird allein im Glauben erkannt. Das gilt für jene nicht anders als es für uns gilt. Jene sahen den Rabbi und Wundertäter und glaubten Christus. Wir hören das Wort und glauben Christus. Aber sollte nicht dies der Vorzug jener ersten Jünger gewesen sein, daß sie dort, wo sie Christus erkannt hatten, sein eindeutiges Gebot empfingen, daß sie es aus seinem Munde erfuhren, was zu tun war, und sind wir nicht gerade in diesem entscheidenden Punkte des christlichen Gehorsams allein gelassen? Redet derselbe Christus nicht zu uns anders als zu jenen? Wäre das wahr, dann wären wir allerdings in hoffnungsloser Lage. Aber es ist keineswegs wahr. Christus spricht zu uns nicht anders, als er damals sprach. Es verhält sich ja auch bei den ersten Jüngern Jesu nicht so, daß sie in ihm erst den Christus erkannt hätten und dann sein Gebot empfingen. Vielmehr erkannten sie ihn nicht anders als durch sein Wort und Gebot. Sie glaubten seinem Wort und Gebot und erkannten in ihm den Christus. Es gab für die Jünger keine Erkenntnis Christi außer durch sein klares Wort. Es mußte darum auch umgekehrt dabei bleiben, daß die rechte Erkenntnis Jesu als des Christus zugleich die Erkenntnis seines Willens einschloß. Die Erkenntnis der Person Jesu Christi entzog dem Jünger nicht die Gewißheit seines Tuns, sondern schuf sie ihm. Eine andere Erkenntnis Christi gibt es aber überhaupt nicht. Ist Christus der lebendige Herr über mein Leben, so erfahre ich in der Begegnung mit ihm sein Wort an mich, so gewiß ich ihn gar nicht wirklich erkenne, es sei denn durch sein klares Wort und Gebot. Die Einrede, das eben sei unsere Not, daß wir wohl Christus erkennen und glauben wollten, aber doch seinen Willen nicht erkennen könnten, spricht von einer nebelhaften, unechten Christuserkenntnis. Christus erkennen heißt ihn in seinem Wort als Herrn und Heiland meines Lebens erkennen. Das aber schließt die Erkenntnis seines klaren Wortes an mich ein.
Sagen wir schließlich, das Gebot an die Jünger sei eindeutig gewesen, wir aber hätten selbst zu entscheiden, welches seiner Worte uns gelte, so mißverstehen wir abermals nicht nur die Lage der Jünger, sondern auch die unsrige. Das Gebot Jesu hat sein Ziel immer darin, daß es Glauben fordert aus ungeteiltem Herzen, daß es Gottes- und Nächstenliebe fordert aus ganzem Herzen und aus ganzem Gemüt. Eindeutig war das Gebot allein hierin. Jeder Versuch, Jesu Gebot zu tun, ohne es so zu verstehen, wäre abermals Mißdeutung und Ungehorsam gegen Jesu Wort. Andererseits aber ist auch uns nicht die Erkenntnis des konkreten Gebots entzogen. Es ist uns vielmehr in jedem verkündigten Wort, in dem wir Christus hören, klar gesagt, allerdings so, daß wir wissen, daß seine Erfüllung allein im Glauben an Jesus Christus geschieht. So ist die Gabe Jesu an seine Jünger uns in allen Stücken erhalten, ja sie ist uns sogar näher gekommen durch den Hingang Jesu, durch unser Wissen von seiner Verklärung und durch die Sendung des heiligen Geistes. Damit muß deutlich geworden sein, daß wir nicht mehr die Berufungsgeschichte der Jünger gegen andere Berichte ausspielen können. Es geht ja niemals darum, daß wir den Jüngern oder anderen Personen des Neuen Testaments gleich wären und würden, sondern allein um die Gleichheit Jesu Christi und seines Rufes damals und heute. Sein Wort aber ist ein und dasselbe, ob es in seinem irdischen Leben oder ob es heute, ob es an die Jünger oder an den Gichtbrüchigen erging. Es ist hier wie dort der gnädige Ruf in sein Reich und seine Herrschaft. Die Frage, ob ich mich dem Jünger oder dem Gichtbrüchigen vergleichen solle, ist in gefährlicher Weise falsch gestellt. Ich habe mich gar keinem der beiden zu vergleichen. Vielmehr habe ich allein Christi Wort und Willen, wie ich ihn in diesem und in jenem Zeugnis empfange, zu hören und zu vollbringen. Die Schrift stellt uns nicht eine Reihe christlicher Typen vor, denen wir uns nach unserer Wahl anzugleichen hätten, sondern sie predigt uns an jeder Stelle den Einen Jesus Christus. Ihn allein soll ich hören. Er ist überall derselbe und Eine. So bleibt auf die Frage, wo wir Heutigen den Ruf Jesu in die Nachfolge hören, keine andere Antwort als: Höre die Predigt, empfange sein Sakrament, höre darin ihn selbst, und du hörst seinen Ruf!
So weit Bonhoeffer für heute. Den Text finde ich weiterhin sehr bedenkenswert, denn er schließt aus, dass es an persönlicher Intuition gelegen wäre. Allein Gottes Geist ist es, der mir die Worte der Predigt aufzuschließend vermag. Allein der Geist ist es, der in mir die Gewissheit bewirken kann, dass in, mit und unter Brot und Wein Jesus selbst anwesend ist. »Wasser allein ist’s freilich nicht, sondern der Geist der mit und bei dem Wasser ist.« (so Luther im Kleinen Katechismus von der Taufe).
So weit, so klassisch. Allein: Ist das nicht ein gescheitertes Modell?
Immer weniger Menschen möchten doch überhaupt die Predigt hören, immer weniger nehmen die Sakramente in Anspruch. Leben wir denn nicht in der Postmoderne? – Haben sich die attraktionalen Modelle von Gemeinde nicht erledigt (also die, bei denen wir in Gemeinde einladen)? Die wenigsten lassen sich einladen und kommen.
Sollten und müssen wir nicht vielmehr Zeitgenossenschaft leben? Fresh Expressions of Church, diese neuen Ausdrucksweisen versuchen ja gerade, hinzugehen zu den Menschen, sie in ihrem Alltag ernst zu nehmen, Gemeinschaft mit ihnen zu leben und zu gestalten. Dabei werden wir, wenn wir authentisch leben, ihnen als Christen begegnen. Aber wir werden mehr für sie tun müssen, als ihnen ein Traktat in die Hand zu drücken.
Und: War es nicht Bonhoeffer selbst, der nach Schließung des Predigerseminars zum politischen Widerständler wurde? Nach seiner akademischen Phase (»Denker«) und der kirchlichen (»Christ«) zum »Zeitgenossen« (so der Untertitel einer Bonhoeffer-Biographie)?
Vielleicht gehört ja beides zusammen: Dass solche Christenmenschen, die in die Nachfolge berufen sich wissen, von der Gemeinde ausgestattet mit Wort und Sakrament in die Welt hineinwirken. Die Welt ist nie gottlos, aber sie ist doch verschieden von der Gemeinde. – Mir ist insofern das Modell einer Freikirche lieb, weil dort deutlich wird, dass zur Gemeinde gehört, wer sich berufen weiß, berufen von Gott in seine Nachfolge und dies in einer konkreten Gemeinschaft mit anderen Nachfolgerinnen und Nachfolgern Christi, in der Kirche.
Wenn wir freilich bei der Gemeinde aufhören, bei dem Punkt, dass wir uns selbst berufen und gerufen wissen, dann reicht das nicht hin. Der Sonntag und die Gemeinde, beide sind gute Gaben. Die Welt aber ist eine Aufgabe, ein Mandatsgebiet. Dort sollen und dürfen wir wirken. In unseren Familien, Nachbarschaften, bei der Arbeit. Aber auch bei Wahlen, in Vereinen, Initiativen usw.
F.W.
Fortsetzung folgt (jeweils mittwochs um 18 Uhr)